Literaturkritik

 

 

 

 

 

Heiße Eisen „cool“ angefasst Zum tragisch-komischen Buch „Robbenjagd in Berlin“ von Alexander Reiser, Geest-Verlag, Vechta, 2009, 190 Seiten, 10,- Euro, ISBN 978-3-3 86685-102-4

Von Ingmar Brantsch

Alexander Reiser gehört zu den ca. 2 Millionen Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion. Er ist ein Nachkomme der von Stalin durch den Erlass vom 28. August 1941 verbannten Russlanddeutschen aus ihren Siedlungsgebieten des europäischen Teils der Sowjetunion - von der Wolga, dem Schwarzmeergebiet, dem Kaukasus und diversen Streusiedlungen - nach Sibirien und Zentralasien unter dem pauschalen Kollektivschuldvorwurf, Feinde der Sowjetunion zu sein.

So kam es, dass Alexander Reiser 1962 in einer russlanddeutschen Familie in Sibirien geboren wurde, wo er von klein auf im familiären Umkreis die deutsche Sprache in rheinfränkisch-dialektaler Färbung „mitbekam“.
Zum Unterschied von den Rumäniendeutschen, die immer über ein eigenes deutschsprachiges Schulwesen auch nach dem Zweiten Weltkrieg bis auf den heutigen Tag verfügten und verfügen, fehlte dies den Russlanddeutschen, die höchstens einen Deutschunterricht als eine Art erweiterter Fremdsprachenunterricht erlebten. Vor der Verbannung hatten sie auch ein eigenes deutschsprachiges Schulwesen, so dass die Seniorengeneration, die Großeltern, mit ihren Enkelkindern Deutsch sprechen konnten, während die heutige Elterngeneration dies schon nicht mehr schafft, zum Teil weil sie lange in Zwangsarbeitslagern interniert war, zum Teil wegen der fehlenden Schulen in der Verbannung, zum Teil auch, um nicht unangenehm aufzufallen, mit der Sprache des „Feindes“.
Alexander Reiser übte zunächst kurzfristig einige Berufe wie Seemann, Fabrik- und Bauarbeiter aus, war auch einige Zeit als Jäger tätig, bis es ihm gelang, Journalistik im äußersten Osten der Sowjetunion in der großen Hafenstadt Wladiwostok (auf Deutsch Beherrscher des Ostens) am Pazifik zu studieren. Er begann danach Russisch, später aber auch Deutsch zu schreiben, da nach Chruschtschows zaghafter Entstalinisierung auch die Russlanddeutschen erst 1964 endlich teilweise rehabilitiert wurden. Sie erhielten eine bescheidene kulturelle Infrastruktur, durften aber nicht an ihre ehemaligen Wohnstätten zurückkehren.
Ende der 90er Jahre gelang es Alexander Reiser nach Gorbatschows Perestrojka, die letztlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt hatte, auf dem üblichen „abenteuerlichen“ Weg durch die nach wie vor korrupte Bürokratie der ehemaligen Sowjetunion in den Westen, nach Deutschland, zu entkommen, sich seinen langgehegten Kindheitstraum zu erfüllen.

So behandeln die ersten vier der mehr als 30 Kurzgeschichten die Schwierigkeiten der Ausreise. Unter anderem wurden Antragsformulare, die von der deutschen Botschaft kostenlos verteilt werden, verkauft. Auch wurden den Aussiedlern eine Menge teure Übersetzungen aufgeschwatzt, bis zu 28 Stück, wobei letztlich der zuständige Sachbearbeiter nur zwei benötigte. Selbst auf dem Weg zum Flughafen bestand noch die Gefahr, von speziell darauf eingestellten Banditen ausgeraubt zu werden. Man musste sich eine Leibgarde mit teurem Geld zulegen. Hier kommt Alexander Reisers mitunter auch rabenschwarzer Humor voll zur Geltung, wenn er erklärt, dass diese postsowjetischen Räuber und Wegelagerer ihre Raubüberfälle auf die Aussiedler als eine Art patriotischer Tat verstanden, die für das Ausland gepackten letzten Wertsachen der Aussiedler durch Raubzüge der geliebten Heimat zu erhalten, so dass eine seltsame Übereinstimmung zwischen der Gesinnung des Staates und der kriminellen Unterwelt stattfand.
Hatte der Ausreisewillige es endlich durch alle diese postsowjetischen Hürden geschafft, die in der Regel bis zu fünf Jahre dauern konnten – eine Art Weiterführung der ehemaligen Fünf-Jahres-Pläne, nur dass diese in den stalinistischen Zeiten in der Regel in vier Jahren erfüllt werden mussten -, stand er nun in der neuen Heimat vor neuen bürokratischen Behördengängen, wenn diese natürlich in Deutschland bei weitem nicht so korrupt waren wie in der ehemaligen Sowjetunion. Ärgerlich aber waren sie mehr als genug.
Hier fasst Alexander Reiser als einer der ersten russlanddeutschen Autoren sarkastisch, oft mit schwarzem Humor, aber ohne jede Verbitterung, heiße Eisen an. Der Verbitterung widersteht sein schier unverwüstlicher Humor immer wieder, und das macht eine der sehr beachtlichen Stärken dieses Buches aus.
Durch die massenhafte Zuwanderung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mussten natürlich Regulierungsmaßnahmen wie das „Spätaussiedler-Wohnort-Gesetz“ – so heißt auch eine der Kurzgeschichten – gefunden werden.

Jeder Aussiedler fürchtete den von der Wiedervereinigung ausgelaugten Osten Deutschlands und versuchte mit allen Mitteln in den besser situierten Westen Deutschlands zu gelangen. Eine nach Düsseldorf zugewiesene Aussiedlerin begann hysterisch zu schreien, sie wolle nicht ins blöde Düsseldorf, sondern unbedingt nach Nordrhein-Westfalen zu ihren schon dort lebenden Verwandten. Sie war überglücklich als sie erfuhr, dass Düsseldorf die Hauptstadt ihres Wunsch-Bundeslandes war, wohin seiner Größe und seinem Bevölkerungsreichtum wegen sowieso die meisten Aussiedler hinkamen. Ein anderer Aussiedler war hochbeglückt, weil er nach Frankfurt kam und musste nüchtern feststellen, dass sein Frankfurt das Frankfurt an der Oder war und nicht das Frankfurt am Main. So war er wider Willen wieder im äußersten Osten gelandet. Auch Alexander Reiser kam nicht wunschgemäß aufgrund seines rheinfränkischen Dialektes nach Hessen oder in die Pfalz, sondern wurde vom Beamten der Migrationsbehörde nach Berlin geschickt, da die Preußen sowieso nicht allzu viel zu tun hätten und sich deshalb auch seinetwegen ruhig mal den Kopf zerbrechen könnten. Alexander Reiser beendet seine erste nähere Bekanntschaft mit der Bürokratie hierzulande „Und so kam ich in den Bus mit den zukünftigen Hauptstadtbewohnern aus Kasachstan, Kirgisien, dem hohen Norden, Sibirien und dem fernen Osten, Goldgräbern, Hochseefischern, Waldbrandlöschern und Viehzüchtern, der uns ins Aufnahmelager nach Berlin-Marienfelde brachte“.

Dasselbe Thema Wohnortgesetz behandelt auch die Kurzgeschichte „Verbannungsort Rügen“. Hier vergisst man eine Familie darüber aufzuklären, dass die Insel Rügen zwar im hohen Norden Deutschlands liegt, aber ein durchaus mildes Klima hat, das sich nicht vergleichen lässt mit der Eiseskälte des russischen Nordens, dem Herkunftsgebiet dieser Familie.
Auf der Zugfahrt nach Rügen durch die menschenleeren Gegenden Mecklenburg-Vorpommerns – Meckpomms – ängstigen sich diese Russlanddeutschen immer mehr als sie zu allem Übel sogar Holzstapel sehen, wie in der Zwangsarbeit der Verbannung im menschenleeren sibirischen Norden. So kommen sie tränenüberströmt am Zielort an, um zu erfahren, dass in Rügen ein Kurort neben dem anderen liegt und es hier in der Touristensaison, die fast das ganze Jahr hindurch anhält, auch immer Arbeit gibt, so dass sie aus allen Wolken fallen, sich als wahre Glückspilze empfinden.

Hier variiert Alexander Reiser gekonnt das dramatische Schicksal des großen russischen Romanciers Dostojewski, der wegen seiner Zarismusgegnerschaft zum Tode verurteilt worden war, aber gerade noch in allerletzter Minute begnadigt wurde. Dies missfiel dem Gefängnisdirektor, der ein persönlicher Feind Dostojewskis war. Deshalb benachrichtigte er ihn nicht und ließ zunächst eine Scheinhinrichtung durchführen, das Erschießungskommando aufmarschieren und dieses mit Platzpatronen Dostojewski in die Ohnmacht schießen. Als Dostojewski nach der Scheinexekution aus der Ohnmacht aufwachte und sich noch immer im Gefängnis befand, glaubte er in der Hölle gelandet zu sein. Bei Alexander Reiser hingegen endet die Fahrt in die deutsche Zwangsarbeitshölle Rügen im Himmel auf Erden für die Spätaussiedler.
Die Hilflosigkeit der Russlanddeutschen mit der bundesdeutschen Bürokratie wird von Alexander Reiser als allgemeines Übel der hochindustrialisierten Welt ohne Wehleidigkeit für wen auch immer auf die Schippe genommen. Sich selber nimmt er dabei keineswegs aus. In einer seiner besten Humoresken „Von Pontius zu Pilatus“ stellt Reiser ernüchtert fest „Wie überall auf der Welt bringt man einen Beamten in erster Linie damit gegen sich auf, dass man ihn zwingt zu arbeiten.“ Nach dieser treffsicheren Formulierung über den Amtsschimmel schlussfolgert Reiser: „Doch das darf er nicht zeigen, also lächelt er, als bedeute man ihm mehr als die eigene Mutter. In Wirklichkeit liebt er einen nicht besonders und wird sich mit Vergnügen gegen einen stellen, wenn man irgendetwas nicht gesehen, nicht genügend überprüft und nicht genügend kontrolliert hat.“
Der biedere Russlanddeutsche, in einem planwirtschaftlichen System aufgewachsen, macht sich nun auch in der Bundesrepublik das Behördenlaufen zur zweiten Natur, wie er es von Haus aus schon gewohnt ist. Selbst nach Erledigung aller Angelegenheiten sucht er freiwillig die Behörden auf, um auf Nummer sicher zu gehen, dass man nicht doch noch vergessen werde. Dazu erklärt er wie in der alten zentralistischen Heimat, er sei nur eben mal ganz zufällig am Amt vorbeigekommen und schaue deshalb einfach sicherheitshalber mal nach. Dadurch verunsichert er die akribischen bundesdeutschen Staatsdiener, denen so etwas noch nie untergekommen ist, und löst bei ihnen nervöse Reaktionen aus. Diese steigern sich noch, weil der biedere Russlanddeutsche nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen will und, von seinem dörflichen Leben her gewohnt, zunächst beginnt, ohne alle Eile allgemein zu werden. Wie es dem Beamten noch so gehe, was dem Beamten Neues auf der Welt gefallen oder missfallen habe und ob schließlich und endlich nicht doch noch irgendein Papier nachzureichen sei, man könne ja nie wissen. Und dies gerade bei einem deutschen Beamten, der wegen seiner Genauigkeit weltweit als Musterexemplar gilt, weil er bekanntlich nichts, aber auch rein gar nichts vergisst. Hier schlägt der Humor von Alexander Reiser richtig Kapriolen auf seine ganz eigene unverwechselbare Art, so dass auch hier wieder mal zu entdecken ist, was Mentalitäten alles an literarischen Anschaulichkeiten zu bieten vermögen.
Eine beachtliche Stärke des Humors von Alexander Reiser besteht auch darin, selbst bei der Thematisierung der mitunter wirklich bedauernswerten Hilflosigkeit der Aussiedler, die zudem auch noch von eigenen Landsleuten manchmal ausgenutzt wird, nie wehleidig zu werden, sondern allem noch einen unerwartet verblüffenden Aspekt abzutrotzen.
In der diesmal schon satirischen Humoreske „Auch die Reichen haben Sorgen“, wird ein russlanddeutscher Schlaumeier aufs Korn genommen, der vermeinte als reicher Mann in Deutschland seinen neuen Lebensabschnitt beginnen zu können, indem er eine vermeintliche Marktlücke auszufüllen versuchte. Aus einem Aussiedlerbrief hatte der Onkel Kaspar zufällig erfahren, dass der Briefschreiber 10 Mark für einen Hammer habe zahlen müssen, um Nägel in seiner Wohnung einschlagen zu können. Deutschland sei zwar wunderschön, aber das Werkzeug sauteuer.

Nicht faul kaufte Onkel Kaspar in Sibirien einen ganzen Container Beile aus der ganzen Umgebung zusammen, um dann in Deutschland erfahren zu müssen, dass sie nicht nur nicht gebraucht werden, sondern zudem ihre Entsorgung ein Schweinegeld koste. Das Ende von Onkel Kaspars Spekulation beschreibt Alexander Reiser mit diesmal trockenem Humor „Als die Nacht am dunkelsten war, begann der im Gebüsch im Park zu graben und eine Grube auszuheben, die so tief war wie der Container groß. Und noch ehe das Morgengrauen den Himmel färbte, verscharrte er darin seinen ganzen schwergewichtigen Reichtum.“
Außerdem rät Onkel Kaspar von nun an allen Ausreisewilligen falls sie es nicht lassen können, auf ihre Habseligkeiten zu verzichten, und diese in einen Container zu packen, immer ganz oben auch einen Spaten und eine Schaufel draufzulegen, „und zwar ganz oben, damit ihr nachher nicht lange nach ihnen zu suchen braucht, wenn ihr ein tiefes Loch graben müsst, um den mitgebrachten Plunder darin zu vergraben.“
Diese oft Schmerzen bereitende Naivität der Aussiedler wird mitunter schamlos ausgenutzt. Sogar von den eigenen Landsleuten, und hier zeigt Alexander Reiser, dass er ein unbestechlicher Beobachter ist, der nicht nur sich selber, sondern auch die eigenen Schicksalsgenossen nicht verschont, was diesem Buch durchaus außer Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung auch noch Glaubwürdigkeit verleiht.
Die schwarzen Schafe aus den eigenen Reihen sind manchmal sogar schlimmer noch als die Einheimischen, die mitunter zwar Unverständnis zeigen, aber niemanden reinzulegen trachten.
In der Humoreske „Wie ich beinahe Banker geworden wäre“ versuchen Aussiedlerbetrüger mit unglaublich hohen Zinsen Landsleute zu Geschäften zu verleiten, die von vornherein unrealistisch sind. In der Satire „Halunken aus den eigenen Reihen“ führt Alexander Reiser eine ganze Liste von Gaunereien auf. So wird ein Lehrbuch verkauft „Wie man im Schlaf mit den Unterrichtsmethoden für KGB-Spione die deutsche Sprache lernt“, oder es wird die Broschüre verkauft „Ratgeber für alle Lebenslagen für Aussiedler in Deutschland“, die an und für sich kostenlos in den Ämtern ausliegt. Auch eine Lebensversicherung, ohne die es verboten sei, sich auf deutschem Boden auch nur einen Schritt zu bewegen, wird den Aussiedlern angedreht. Ganz zu schweigen von den zahllosen Adressen von Übersetzungsbüros und Sprachschulen, die selbst auf den Toiletten hängen. Diese sind in der Regel alle wesentlich teurer als die behördlich Vorgesehen.

Diese Selbstkritik an den eigenen Aussiedlerschicksalsgenossen hilft Kommunikationshürden überwinden, indem eine Konfrontierung – hier gutgläubige Aussiedler, dort mit allen Wassern gewaschene Einheimische – verhindert wird, ja als Vorurteil enthüllt wird. Damit ist gerade auch diese Humoreske richtiggehend integrationsfördernd, indem sie zu einer realistischen Einstellung verhilft.
Diese realistische oder zumindest realistischere Einstellung ist jedoch von beiden Seiten – der der Aussiedler, wie auch der der Beamtenschaft – nötig.
Die zuständigen „Sachbearbeiter“ haben oft einen illusionären Erwartungshorizont gegenüber den Aussiedlern, wobei von einer totalen Unterforderung bis zu einer Idealerwartung so gut wie alles vorkommt.
In der Satire „Sprachkurse, die man meiden soll“, wird tragisch-komisch auf die falschen Sparmaßnahmen hingewiesen, möglichst viele Deutsch Lernende in einer Gruppe zusammenzufassen, ohne genügend auf den unterschiedlichen Kenntnisstand der Kursteilnehmer zu achten. Dieser reicht vom fast Analphabeten, vom niedrigsten Niveau, bis zu den einigermaßen schon Deutschsprechenden. Da die Lehrerin mit den „Schwächsten“ beginnt, kann in den sechs Monaten für einigermaßen schon Fortgeschrittene nicht nur nichts wesentlich Neues hinzukommen, sondern die vorhandenen Deutschkenntnisse werden bei den vielen Fehlern der Anfänger verunsichert. Ergo der tragisch-komische Ratschlag, wie es der Titel der Satire schon aufzeigt, wer mit Deutschkenntnissen hier was lernen wolle, solle das bei diesen Kursangeboten schön bleiben lassen, denn bei dem blutigen Anfängerniveau für alle, verlerne man seine einigermaßen schon vorhandenen Kenntnisse.
In der Satire „Aussiedler mögen grünen Tee“ wird die Bürokratie auf die Spitze getrieben. Ein gänzlich unbedarfter Aussiedlerbeauftragter vermeint, weil viele Russlanddeutsche aus ihren mittelasiatischen Verbannungsgebieten kommen, würden sie nur grünen Tee mögen und keinen Kaffee. Die behördlich festgesetzten Kaffeerunden seien das falsche Konzept der Regierungspartei, die grünen Teerunden hingegen das Oppositionsparteiheilmittel.
In der Satire „Onkel Heinrich und die große Politik“ gerät der russlanddeutsche Onkel Heinrich in die Mühlen der Political Correctness, als er darauf hinweist, dass in der ehemaligen Sowjetunion die unterdrückten Russlanddeutschen (wie übrigens auch die Krimtataren, die Tschetschenen, die Inguschen, die Balten und andere Völkerschaften) mit ihrem Bekenntnis Deutsche zu sein, der Staatsmacht und deren Unterdrückung trotzen wollten und deshalb auch Nachteile für das Bekenntnis zu ihrer Identität in Kauf nehmen mussten. Hier nun in der Bundesrepublik muss Onkel Heinrich erfahren „... es gehört zum guten Stil, auf die Deutschen und alles Deutsche zu schimpfen“, was er nach wie vor nicht kann und deshalb sogar Gefahr läuft, als Russe mit rückständiger Deutschtümelei angesehen zu werden.

Als Onkel Heinrich auf einer Aussiedlerveranstaltung auch noch erleben muss, wie die gut gekleideten einheimischen Damen und Herren zuständig für irgendwelche Integrationsprojekte sich auch noch stöhnend und schluchzend beklagten, wie schwer es sei, mit dem „Problem“ der Aussiedler trotz heldenhafter, alltäglichen Opferbereitschaft der Beamten zurechtzukommen, weil diese am hartnäckigen Unwillen der betroffenen Aussiedler scheiterten, ist Onkel Heinrich vollkommen erledigt und kann nur noch nach Luft schnappen.
Wie abenteuerlich der Erwartungshorizont den Russlanddeutschen gegenüber sein kann, schildert die Satire „Die Russlanddeutschen und die Schamanen“.
Ein Russlanddeutscher hat eine Tschuktschin - eine Ureinwohnerin aus dem hohen Norden Russlands – geheiratet, und nun glauben die Berliner bei der Vorstellung ihrer Schamanenbräuche diese seien typisch für das russlanddeutsche Nomadentum, weil dieser „Exotenbonus“ ihren Erwartungshorizont von Sibirien und seinen Bewohnern entspricht und die Bundesdeutschen somit anspricht und für diese Russlanddeutschen durchaus einnimmt.
Demgegenüber steht die genauso krasse Fehleinschätzung der Wirklichkeit über die angeblichen Privilegien der Aussiedler.
Auch dieses heikle Thema, das nur allzu leicht zu Verstimmungen führen kann, wird von Alexander Reiser „leichtfüßig“ angegangen. Diese Humoreske „Zu den Privilegien der Migranten“ ist eine unerwartete humorvolle Meisterleistung nach dem anfänglich bedenklichen Titel über die Privilegien der Migranten.
Auf einer Baustelle motzt ein einheimischer Arbeiter in Gegenwart eines Russlanddeutschen dauernd darüber, was die Migranten alles für Privilegien hätten, wie z.B. ein eigenes Häuschen geschenkt zu bekommen oder eine Frühpension schon mit 60 Jahren zu erhalten. Der russlanddeutsche Ich-Erzähler bestärkt den Neidhammel zunächst in allen seinen Vorurteilen, so dass dieser wutentbrannt zu den Behörden rennt und sich beschwert, um hier nun endgültig aufgeklärt zu werden. Erleichtert kehrt der Neidhammel nun an seinen Arbeitsplatz auf die Baustelle zurück, um freudetrunken allen zu verkünden, alle – einschließlich der Russlanddeutsche – säßen im gleichen Dreck und müssten ohne jedwede Ausnahme gleichlang arbeiten und von wegen Häuschen geschenkt bekommen, so was habe es noch nie gegeben. Damit, schlussfolgert der Ich-Erzähler, wird der Russlanddeutsche endlich auch von diesem penetranten Neidhammel als Schicksalsgefährte im „gleichen Dreck“ angesehen. Immerhin nur ein kleiner, wenn auch nicht zu übersehender Fortschritt.
Nur einem begnadeten Humoristen wie Alexander Reiser kann es gelingen mit einem so glücklichen Händchen ein dermaßen heikles Thema humorig, aus dem „Dreck zu ziehen“ und gleichzeitig dabei im wahrsten Sinne des Wortes aufklärerisch zu wirken.

 

 

Ingmar Brantsch